Zum Inhalt springen

Monat: Juli 2017

Das andere peinlich

Früher (jetzt kein „TM“) hab ich gerne den Kicker gelesen. Ich hatte kein Abo, wie LizasWelt seit Jahr und Tag, aber ich hab ihn mir immer mal wieder gekauft. Das war kurz nach dem Abi, kurz, nachdem ich meine erste Email ever schrieb (1995 an Sebastian A**) und immer hoffte, vielleicht antwortet mir ja irgendjemand, obwohl ich niemandem außer den alten Haudegen aus der Abi-Stufe überhaupt meine Email-Adresse gegeben hatte. Und worauf hätten sie überhaupt antworten sollen, wenn ich selbst nie etwas schrieb? Ich las meistens. Gerne den Kicker, weil da drin stand, was so „los ist“ in der Bundesliga. Geschämt hab ich mich dann, als ich nach dem Zivi zur Uni ging und da immer noch den Kicker las. Ich studierte xy, da waren sehr viele Mädchen Frauen dabei (nein, kein Laberfach, eine Naturwissenschaft), Fußball war so ungefähr das letzte, mit dem man diese beeindrucken konnte. Also stopfte ich mir den Kicker immer so andersrum in die Tasche, dass es so aussah, als könnte es auch eine normale Zeitung sein. Auf dem Heimweg beim notgedrungen nötigen Pendeln versuchte ich immer zu vermeiden, dass jemand erkennen könnte, dass ich den Kicker las. Nicht, weil der Kicker schlecht war, damals, sondern weil ich mich nicht outen wollte. Ja, ich war heimlicher Nationalmannschaftsgucker, ich guckte Deutschland gegen Georgien. Deutschland gegen Island. Als beide Gegner wie auch „die Mannschaft“ weit davon entfernt waren, irgendwie sowas wie cool zu sein. Ich war heimlicher Gucker in jenen Zirkeln, oh, Du hast Deinen Adorno immer noch nicht verstanden? Nein, ich musste Deutschland gegen Portugal gucken. Ich hab mich – in diesen Kreisen, nicht zu Hause im Fußball – immer geschämt. Oh mein Gott, Fußball, das uncoolste, was es gibt. Ja und? Ich mag es halt. Es interessiert mich.

Dann kam die WM 2006.

Danach war alles anders.

Auf einmal fluteten Menschen mein Metier, von denen ich nicht im Entferntesten gedacht hätte, dass sie sich überhaupt (abgesehen von all der Problematik damit) jemals mit diesen drei Streifen auf der Backe zeigen würden. Die verkackte Nationalmannschaft kam im Mainstream an. Man weiß, wie das Gefühl ist, wenn die Band, die man schon ewig kennt und hört, auf einmal Erfolg hat und jeder andere Hippo erzählt einem auf einmal, wie geil diese Band ist. Ja, man, lass, ich kenne sie doch schon ewig. Ich hab es mir nicht gewünscht, dass Fußball auf einmal im Mainstream ankommt.

Jetzt ist es mir peinlich, dass ich mich für Fußball interesserie, wo jeder Hinz und Kunz zuschaut. Jetzt muss man sich rechtfertigen: „Jede/r schaut Fußball, das ist doch völlig banal, Du etwa auch?“ Jetzt ist es nicht mehr cool, Fußball zu schauen oder sogar irgendwas anderes, jetzt ist Fußball nah am Familien-Tattoo. Jeder mag es, jeder labert darüber. Es ist Mainstream geworden, ein belangloses Gesprächsthema auf einer Grillparty. Man kann nur noch kotzen über die x-te Choreo der Champions League, man hasst die Reinkarnation Blatters, Infantino, mit Inbrunst und alles ist so dermaßen langweilig, wie die Tattoos der Spieler. Die Krönung ist wirklich, dass sich gerade in jener Zeit, in der der Fußball im Mainstream ankam, er sich selbst abgeschafft hat, indem die Champions League auch die nationalen Ligen ruiniert hat. Aber das wiederum interessiert ja keinen. „Du guckst wirklich (immer noch) Fußball?“ OMG, Du hast ja wirklich gar keinen Stil mehr.

Ja, ich schaue weiter Fußball, aber es wäre mir lieber, wenn es mir so peinlich wie früher wäre und nicht so wie heute. Wenn ich könnte, wählte ich das andere peinlich.

13 Kommentare