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Ein Erdbeben-Test

Einmal musste ich in Rheinhausen in ein Internet-Café. Das war in der Prä-Smartphone-Zeit. Rheinhausen ist ein Stadtteil von Duisburg, wobei das genau genommen nicht so stimmt. Eigentlich ist Rheinhausen eine eigenständige Stadt, nur eine Kommunalreform im Jahr 1975 hat diese eigenständige Stadt nach Duisburg eingemeindet. Wie das so ist, mit alten Grenzen, die physisch gar nicht existieren, nur in den Köpfen und dort aber für immer leben, so lange durch die Köpfe noch Blut fließt, die an jüngere Generationen eher implizit als explizit vererbt werden, fühlt man sich in Rheinhausen (ca. 77.000 Einwohner, durchaus fast eine eigenständige Großstadt) nicht so wirklich als Duisburger, wenn man auch aufgegeben hat, auf seiner eigenen administrativen Unabhängigkeit zu bestehen. Anders als im ewigen Kampf von Wattenscheid gegen Bochum beispielsweise.

Rheinhausen ist jedenfalls eine Stadt, die mal extensiv in den Schlagzeilen vorkam, bundesweit, weil hier ein Stahlwerk von Krupp dicht gemacht werden sollte, woraufhin alle Stahlarbeiter in Streik traten und u. a. die von Duisburg nach Rheinhausen führende Rheinbrücke wochenlang blockierten. Wie sie überhaupt vieles blockierten. Was aus heutiger Sicht befremdlich wirkt, mag damals ein Weg gewesen sein, seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, wahrscheinlich eher seiner Angst als einer Hoffnung. Viele solidarisierten sich, Stahl- und Kohlearbeiter aus Dortmund oder sogar aus dem Saarland rückten an, um die Streikenden zu unterstützen, wirklich, wie gesagt kaum nachzuvollziehen heutzutage.

Wenn sich etwas überlebt hat, warum sollte es man dann noch künstlich am Leben erhalten? Husch, husch, schnell neue Jobs gesucht, neue Firmen gegründet, weiter im Leben.

Aber so war die Mentalität damals nicht, man kannte es eben kaum, dass man überhaupt einmal in seinem Leben seinen Arbeitsplatz bzw. -geber würde wechseln müssen, wenn man einmal bei einem der Großen gelandet war. Thyssen, Krupp, Bayer, you name it, wer einmal drin war, wurde auch mit deren Firmenlogo beerdigt. Sozusagen.

In Duisburg hat man die damals blockierte Brücke dann flugs umbenannt in „Brücke der Solidarität“. Als hätte auf der Straße rumstehen und dagegen protestieren, dass die eigene Firma nun mal mit so vielen unproduktiven Fritzen international nicht konkurrenzfähig ist, etwas mit Solidarität zu tun. Sie haben sich doch einfach nur alle in die Hose gemacht, ahnten noch nicht, dass alle Blumen in ihrem Schlaraffenland schon längst verwelkt waren, aber damals war das normal, dass man sagte: Nee, hier bin ich kurz nach der Schule in die Lehre gegangen, hier will ich auch bis zur Rente bleiben. Flexibilität war ein Fremdwort. Wie das vom Smartphone eben auch.

Und solche gab es noch nicht, als ich in ein Internet-Café in Rheinhausen musste. Ich musste, weil ich irgendetwas Wichtiges für einen Job, den ich gerade im Feld erledigt hatte, per Email übermitteln musste. Rheinhausen galt damals schon als finster, so lange ist es auch noch gar nicht her. Kurz reingehuscht und meine Email getippt, dachte ich. Doch da hatte ich die Rechnung ohne den großen Fernseher an der Wand gemacht, der gerade ein Spiel von Galatasaray übertrug (vielleicht war es auch Fenerbahce).

Während ich an einem der wenigen Rechner in diesem Internetcafé saß und vor mich hintippelte, lief auf dem großen Fernseher an der Wand die Übertragung eines Spiels von Galatasaray (oder Fenerbahce). Die im Internetcafé versammelte Menschenmenge an offensichtlich türkischstämmigen – ausnahmslos männlichen – Menschen wurde immer größer. Wer der Gegner war, vermochte ich anhand der eingeblendeten Mannschaftskürzel nicht zu sagen.

In jedem Fall schien es äußerst wichtig zu sein, wie diese Partie ausging, denn die versammelte Fangemeinde ging nicht nur mit und raufte sich wortwörtlich bei jeder vergebenen Chance die Haare, es gab auch Szenen, in denen Fans mit der blanken Faust auf zufällig unschuldig herumstehende Tische schlugen. Das allgemeine Gebrabbel, aber vor allem Mitgefiebere wurde immer größer, bis ich kaum noch meine eigenen zu tippenden Worte verstand, obwohl ich dafür nur meine Finger auf der Tastatur bewegen musste. Die Zeit drängte, die Deadline rückte näher, ich konnte nicht weiter herausfinden, wer da gegen wen spielte.

Dass es hoch und heiß herging, war aber nicht zu überhören, die vor dem TV versammelte Menschenmenge raunte immer lauter, jede auch nur halbe Chance wurde mit intensiven Flüchen begleitet, so laut, dass man alleine davon schon fast Tinnitus bekam. Die angefragten Daten flogen immer langsamer in die Email, so sehr zischte und rauschte es durch den Saal, der eigentlich nur aus einer kleinen Bude bestand.

Hin und her ging es wohl nicht in diesem Spiel, doch umso mehr Chancen das angefeuerte Team vergab, desto dringlicher seufzte die Menge, rief Allah an und verzweifelte auch mit allen sonstigen Komponenten ihres Körpers. Einige liefen nach vergebenen Chancen nach draußen, ich wartete nur darauf, dass einer eine Pistole zückte und vor Verzweiflung in die Luft schösse.

Ich tippte und tippte auf der Tastatur, bald war das Ende der Dateneingabe schon abzusehen, da, als hätte man es komponiert, fiel dann doch noch das Siegtor für die angefeuerte Mannschaft. Die ganze vorher erlebte Spannung entlud sich in einem orkanartigen Jubel, von dem ich annahm, dass er rein durch seine physische Gewalt alle gerade von mir eingegebenen Daten vernichten würde. Dem war aber nicht so, stattdessen liefen die Zuschauer, Fans, aufgeregt durch den Laden und jubelten, einer verpasste mir einen Kuss auf die Wange und ich dachte, sicher wäre hier gerade die Vorentscheidung in der Meisterschaft gefallen. Zum Glück war meine Email gerade fertig.

Ich klickte auf Senden, drängte mich zum Kassierer durch und sagte: eine Stunde Internet. Macht 2 DM, ok. Beim Rausgehen frage ich einen der Jubelnden, was das denn für ein Spiel gewesen sei.

„War nur ein Testspiel.“

3 Kommentare

  1. Dominik Dominik

    Sehr schön.

  2. Die Geschichte mit Cromme und Rheinhausen sehe ich im Nachhinein Wort für Wort genauso wie Du. Damals war ich entrüstet.

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