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Die besten zwei ersten Spieltage einer EM aller Zeiten

Natürlich kann das Turnier noch völlig kippen, wenn zum Beispiel Griechenland trotz seiner Spielweise, die sich auf den Ex-Bundesligatorschützenkönig Gekas verlässt, noch Europameister werden sollte. Wenn die Teilnehmer der KO-Rundenspiele wieder in Angst erstarren und alle Partien im Elfmeterschießen entschieden werden müssen. Oder wenn Spanien mit seiner einschläfernden Totaldominanz allen Gegnern und somit auch Deutschland mal wieder keine Chance lassen sollte. Und das Kapitänchen wieder vor laufender Kamera sein Schluchzen nicht unterdrücken kann. Oder wenn jemand auf die gefährliche Idee — tun Sie das nicht, wenn Kinder anwesend sind — kommen sollte, den Ton der Übertragungen doch wieder so laut einzustellen, dass man den Kommentar verstehen kann.

Aber es muss ja nicht so kommen, und das wäre für das bereits Geschehene ohnehin unerheblich. Die bislang gespielten Partien waren so gut wie seit Jahrzehnten nicht bei einem großen Turnier. Falls man sich fragt, wieso hier jemand so schwärmt: Es gab kein einziges fades, verdientes NullzuNull. Die Schiedsrichter pfeifen von wenigen, nun mal unvermeidlichen Ausnahmen abgesehen auf allerhöchstem, angemessenen Niveau. Die Absenz von bösen Fouls und schweren Verletzungen. In manchen Partien fallen viele Tore, andere wiederum enden gerechterweise Remis. Fans singen. Die Stadien sind unterschiedlich voll gefüllt, was man durchaus als positiv empfinden kann. Es passieren dem Fußball immanente Dinge (Regen, Fans singen nach Niederlagen) und die Menschen freuen sich darüber, als hätten sie das noch nie erlebt. Es gibt nur ganz wenige Ausschreitungen, es sollen sogar noch Hunde in der Ukraine leben, wenn es regnet, wird auch Michel Platini nass und Deutschland gewinnt zwei Mal, kann aber immer noch ausscheiden. Spanien gewinnt nicht zwei Mal, ist aber schon fast weiter. Total verrückt, dieser Fußball, und eben auch „am Ende des Tages“ einfach ganz normal.

Das ist wohl wirklich das Herrliche an dieser EM: Es geht um Fußball (außer auf Usedom, aber auch das, meine Herren, ich habe es selbst erlebt, ist möglich: sich trotz Verzicht auf eine Einleitung auf dem Niveau von Lokalradio in eine Partie einzufinden) und nichts als um Fußball. Welcher weder langweilt noch arm an Überraschungen ist. Selbst an der Heimatfront ist es von einigen wenigen Autokorsos abgesehen erfrischend unschlandig. Und mit Mario Gomez hat das Turnier einen Kandidaten, der noch zum großen Verlierer des Turniers werden kann, genauso wie dieses Türchen natürlich auch für Manuel Neuer immer offen steht. Ein klarer Favorit ist noch nicht auszumachen, selbst England könnte sein „Standardergebnis vom Erreichen des Viertelfinals“ (Nick Hornby) noch schaffen, die Farbtupfer heißen Kroatien und Polen und selbst Hansi Flick erkennt Fettnäpfchen inzwischen knapp vorm Reintreten. Kurzum: So geht ein gutes Fußballturnier.

(Und glauben Sie mir, es ist möglich, die Spiele völlig ohne bewusstes Aufnehmen des Kommentars zu verfolgen. Das hilft ungemein. Spart endlose Glossen, die keiner braucht, weil es darin ja nicht um Fußball, sondern um Fernsehmitarbeiter geht, spart auch viel Speicherplatz für Ereignisse auf dem Platz und spart womöglich sogar Lebenszeit, die man nicht mit unnötigem Ärger über schwache Kommentatorenleistungen verbringt, sondern mit dem Genießen von Fußballszenen. Mellberg, Welbeck, Pirlo, Blaszczykowski et al, die bereiten wirklich viel mehr Freude als Poschmann, Wark oder Bartels.)

21 Kommentare

  1. Ace T. Ace T.

    Danke, das sehe ich auch so. Das beste Turnier, das ich bewusst mitbekomme!

  2. OM OM

    Wie macht man das?! Wie schafft man es, den Kommentar aus dem Bewusstsein auszublenden, ohne auf (TV-gefilterte) Stadionatmosphäre verzichten zu müssen? Teile deine große Weisheit, Swami Baade!

  3. Wie eine Raupe auch nicht erklären kann, wie sie zum Schmetterling wird, tut mir leid, kann ich das nicht erklären. Aber ich bin mir sicher, denn der menschliche Organismus ist dazu in der Lage, dass auch Du dies schaffen kannst.

  4. Und kurz zur Einordnung: Ace T., welches war Dein erstes bewusst erlebtes Turnier?

  5. christoph christoph

    Sehe die EM auch sehr positiv.

    Aber da ich ja nun offizieller Gomez-Verteidiger bin (der ich nie sein wollte):

    „Und mit Mario Gomez hat das Turnier einen Kandidaten, der noch zum großen Verlierer des Turniers werden kann“

    Genau das ist die Logik der Bild-Zeitung, die ihn gestern zu „Gigant-Gomez“ gemacht hat und nun begierig darauf wartet daraus „Gurken-Gomez“ zu machen.

    Jaaa, ich bin von dem Thema besessen! ;)

  6. Es ist vielleicht nicht ganz so eindeutig ersichtlich, doch die Mechanismen dieser „Zeitung“ liegen mir fern. Aber es würde doch wohl niemand behaupten, dass diese „Zeitung“ Robben zum Verlierer der Bundesliga- und CL-Saison gemacht hat. Das war er schon selbst. (Und ja, überhaupt so weit zu kommen hat nichts mit Verlierersein zu tun.)

  7. OM OM

    Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass eine spontane Mutation meines kognitiven Systems mir diese Fähigkeit beschert. Ich hoffe. Ich hoffe….

  8. FelixK FelixK

    „Giga-Gomez – Sein Körper, seine Liebe, seine Wut“ – dagegen kommt auch Usedom nicht an.

    Aber bezüglich des Fußballs: volle Zustimmung, die Spiele samt Atmosphäre sind sehr schön bislang.

  9. christoph christoph

    Einen Spieler zum MÖGLICHEN Verlierer der EM zu machen, nachdem er 3 Tore geschossen hat, ist kurios. Und es ist ein Held oder Versager-Denken, dass ich nicht so schön finde. Was ist mit all den Spielern, die 0 Tore geschossen haben? Sind die dann Gewinner?

    Dass das bei dir nun zufällig Gomez ist… ist halt kein Zufall. Bei 3 Toren von Podolski, Klose, Müller, Reus hättest du diese kleine Bemerkung nie geschrieben. Oder?! :)

  10. Bitte, ich bitte sehr darum, nicht die Inhalte der FOTO-Zeitung hier zum Thema zu machen, es sei denn in einer Form von Metabetrachtung. Ihre Macht reicht doch nur so weit, wie man ihr Aufmerksamkeit schenkt. Und dazu zählen Kommentare in Blogs nun mal auch.

    Also allgemein gesprochen.

    Bei den anderen hätte ich es nicht geschrieben, stimmt, aber ich berufe mich dabei nicht auf die FOTO-Zeitung und ihr Lüstern nach Untergang, sondern auf Gomez‘ bisheriges Schicksal in der Nationalmannschaft. Und ich habe mir auch schon die Finger wund geschrieben (okay, fast), dass der „Fluch“ vom vergebenen Tor bei der EM 2008 nur so lange ein „Fluch“ war, wie es Menschen gibt, die dieses Mem aufnehmen und wiederholen.

  11. ceud ceud

    Absolut. Irre unterhaltende EM. Fußballerisch in den meisten Fällen erstaunlich gut.
    Wenn ich da an die WM10 denke: Vuvuzelas überall, England – Algerien 0:0, Italien 1:1 Paraguay, Argentinien 1:0 Nigeria, Frankreich 0:0 Uruguay, Griechenland 0:2 Südkorea, Brasilien 0:0 Portugal. Das war grausam.

    Wenn das Niveau bei der EM mal mies ist, dann wenigstens spannend und Drama, wie bei Polen – Griechenland oder gestern England – Schweden.

    Ich kann mein Glück kaum fassen, dass diese EM so gut ist.

  12. Ace T. Ace T.

    EM 1996
    Von der WM 1994 hab ich bruchstückhafte erinnerungen, von den drei anderen Turnieren, die vorher zu meiner Lebzeit stattfanden kenne ich nur Erzählungen ^^

  13. Ziemlich unterhaltsame Euro, das ist richtig. Sie reicht nahe an die vorgenannte Euro 96 heran. Poschis Sound ausblenden und trotzdem mit Ton EM klappen. Es gelingt.

  14. Also die Kommentatoren sind echt mies, aber die Spiele dafür umso besser! Außerdem gibt es so viele schöne Geschichten bei der EM. Da wäre der Gomez-Befreiungschlag, das Ausscheiden der alternden Holländer, das Versagen einiger Weltklassespieler, das Auftreten der Russen, der doppelte Schevchenko oder die Flut von Donezk. Man könnte noch unendlich mehr aufzählen, doch es ändert nichts daran, dass die diesjährige EM bisher einfach gut ist. Ich hoffe nur, dass ein Gastgeberland weiterkommt, damit die gute Stimmung bleibt.

  15. Stefan Stefan

    Ja, diese EM gefällt.

  16. Vorrunden bei EMs und WMs kann man vom Niveau her nicht vergleichen. Noch nicht. Leider ändert die UEFA dies ja in Kürze, dann dürfen wir uns auch bei Europameisterschaften über langweiliges Vorrundengedaddel freuen. Vor dem letzten Gruppenspieltag ist noch kein Team qualifiziert und erst zwei Mannschaften draußen. Viel spannender geht es nicht.

    Mal sehen, ob das Turnier an die EM 2000 herankommt. Die sticht für mich auch deshalb so heraus, weil dort entgegen dem damaligen Trend im Vereinsfußball sehr offensiv gespielt wurde (mit großartigen Franzosen, Portugiesen, Niederländern und Italienern im Halbfinale und Vorrundenaus für rumpelnde Deutsche und Engländer).

    Mit Spanien gegen Italien hatte diese EM immerhin schon das beste Vorrundenspiel seit Niederlande – Tschechien 2004. Vom Niveau her war es sicher gleichwertig (wenn auch nicht von der Dramatik).

  17. Cesar Luis Cesar Luis

    Ja, diese EM ist bisher sehr positiv. Ich kann den genannten Punkten nur zustimmen, natürlich auch mit der Einschränkung, die auf „bisher“ liegt. Aber allein die Tabellen-Konstellationen versprechen für die letzten Gruppenspiele Dramatik. Polen-Tschechien, Portugal-Niederlande, England-Ukraine, Italien oder Kroatien, alles Spiele, auf die man sich zurecht freuen kann.

    Ob es jetzt allerdings die besten ersten beiden Gruppenspieltage einer EM aller Zeiten waren, möchte ich nicht unbedingt sagen. Denn bei einer subjektiven Betrachtung fließen natürlich die jeweiligen persönlichen Lebenssituationen der unterschiedlichen Jahre mit ein, was die objektive Sicht verfälschen könnte.

    Im Rückblick habe ich jetzt spontan die EM 84 positiv in Erinnerung, durch die vielen Tore der Franzosen und, vor allem, durch die Geburtsstunde des Danish Dynamite, als die Dänen mit ihrem frischen Offensiv-Fussball viel prägender waren, als die Legende von 92. Nicht fussballerisch, aber von der Stimmung her, bleibt für mich die EM 96 unübertroffen. Getragen vom Ankämpfen gegen das „They just know. They‘re so sure that England’s gonna throw it away, gonna blow it away“, und zwar ankämpfen, weil „30 years of hurt never stoppped me dreaming“, was letztlich dann doch in unnachahmlicher Weise nicht gelang. Wahrscheinlich kann nur ein Engländer es so ausdrücken. Das irische „Fields of Athenry“ übertrifft dies für mein Verständnis sogar noch, es wird aber nicht die Stimmung der gesamten EM tragen können.

    Nun hoffe ich, dass die Polen weiterkommen. Wobei ich glaube, dass sie, dann befreit von der offensichtlichen Last der Vorrunde, im Viertelfinale ein ganz gefährlicher Gegner wären.

  18. christoph christoph

    Schlimmste EM aller Zeiten allerdings in Sachen Kontrollwahn der UEFA über Berichterstattung und Bilder. Von (sport)politischen Fragen ganz zu schweigen. Darf man ja auch nicht ganz ignorieren, bei allem Spaß.

    Berichterstattung im Fernsehen auch ziemlich ärgerlich (Usedom??).

  19. netzberg netzberg

    Mit Schiedsrichtern, ohne Unsportlichliches, mit Toren (!), ohne Betontaktiken: alles schöne Spiele. Ja. Für mich vorne: England vs Schweden, ein Traum von einem Turnierspiel.

  20. Ina Ina

    D‘accord. Auch wenn mir das Ausblenden von Kommentatoren partout nicht gegeben ist, ich wünsche mir die Stadionton-Tonspur auch bei den öffentlich-rechtlichen. Aber ohne die Vorberichterstattung geht es mir hervorragend, dank Spielverlagerung hatte ich ohnehin noch nie so viel Ahnung von den spielenden Teams wie bei dieser EM. Macht Spaß bisher.

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