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Zwei Zahlen am Küchentisch

7:1.

Früher wären das nicht mehr als zwei Zahlen in der Zeitung gewesen und man hätte am dem Spiel folgenden Morgen zu Hause am Küchentisch den Blick über diese Zahlen gleiten lassen und nicht gewusst, wie das Stadion, in dem gespielt wurde, aussah, abgesehen von dem Eindruck, den man von vergilbten Postkarten mit Impressionen dieses Stadions gewann, die man auf einem Flohmarkt einem bärtigen, seltsamerweise ebenso vergilbten Typen für 50 Pf (3 Stück 1DM) abgekauft hatte, nur um zu Hause festzustellen, dass das Stadion schon längst renoviert, umgebaut oder abgerissen und neu aufgebaut wurde und inzwischen vollkommen anders aussah.

Früher hätte man nicht gewusst, wie die Trikots der Mannschaften aussahen, noch, wie die Gesichter der Spieler, die jene trugen, aussahen; abgesehen von den seltenen Ausnahmen, in denen einige der Akteure zufälligerweise Nationalspieler waren und mit dieser ihrer Nationalmannschaft in nicht allzu langem Zeitraum vor diesem Spiel gegen die Bundesrepublik Deutschland antraten und deshalb auf einem stets flimmernden Bildschirm als seltene Exoten zu bestaunen waren. Sollten diese hingegen nur Ersatzspieler in ihren Nationalmannschaften gewesen sein, würde man nicht gewusst haben, wie die Spieler aussahen, man hätte sich lediglich bei besonders gutem Gedächtnis an den verpixelten Schriftzug des Namens erinnert, der einem bei Einblendung der Ersatzspieler eventuell, aber nicht mit großer Wahrscheinlichkeit aufgefallen wäre.

Früher hätte man nicht gewusst, wie die Gesänge der Fans in diesem Stadion geklungen hätten, man hätte es sich vorstellen müssen und doch nicht vorstellen können: Wie soll man sich etwas vorstellen, was man noch nie gesehen oder gehört hat? Die vierte Dimension kann man sich schließlich mit einem in drei Dimensionen aufgewachsenen Hirn ziemlich schlecht vorstellen; und bevor man die Pixies gehört hatte, wusste man auch nicht, was alles im Bereich des Laut-Leise-Laut-Leise-Rocks möglich ist. Man hätte sich die Gesänge vorstellen müssen und wäre trotz, vielleicht gerade wegen der anhaltspunktlosen Leere dieser Vorstellung schwer beeindruckt gewesen.

Früher hätte man die erzielten Tore nur — selbst ausgedacht — vor seinem geistigen Auge sehen dürfen, in diesem Falle gleich acht Stück an der Zahl. War der Torwart so schlecht? War es ein Spiel auf ein Tor über die vollen 90 Minuten? Bekam die unterlegene Mannschaft schon nach 25 Minuten die zweite Rote Karte, oder wie konnte dieses Ergebnis sonst zustande kommen? Waren die Tore herrliche Weitschüsse, noch herrlichere Kombinationen, stand es zur Pause nur 1:1 und brach der Gast konditionell ein oder gab es doch Anzeichen, dass der Schiedsrichter unter dem Druck des Heimpublikums zusammenbrach und ein paar unberechtigte Strafstöße erteilte? Man konnte nur phantasieren, aber erfahren hätte man es nie, während man in der Küche saß und diese beiden Zahlen las.

Heute gibt es youtube — und die zwei Zahlen in der Zeitung sind wirklich nur noch zwei Zahlen.

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