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Von Buden und Bekenntnissen

Der Besitzer der Bude (das ist auf Hochdeutsch eine Trinkhalle, man sagt auch Kiosk dazu, wobei Kiosk ein türkisches Wort ist, das ursprünglich „kleines Gartenhaus“ bedeutete), in der ich des Öfteren zu überteuerten Preisen, aber immer begleitet von netter Plauderei, Dinge des alltäglichen Bedarfs erstehe, ist Türke und laut eigenen Angaben seit Mitte der 1960er in Deutschland.

Er ist höchst überzeugt davon, dass Deutschland das Halbfinale gegen die Türkei gewinnt, und wenn er ganz ehrlich ist, sagt er, fühle er ohnehin mehr Verbundenheit mit der deutschen Mannschaft als mit der türkischen.

Er nennt mich immer „Junge“, was eher schmeichelhaft ist, hat die Reinigung gegenüber doch letztens nichts Besseres zu tun gehabt, als an jeden Kleiderbügel der abgeholten Wäsche eine Probepackung einer Anti-Faltencreme für Männer anzuhängen.

„Junge“ — „fossilierte Sprachkenntnisse“ (ein herrlicher Begriff, jeder kennt solche Pappenheimer, deren Deutsch schon immer rudimentär war und sich trotz ständigen Hörens der deutschen Sprache einfach nicht mehr verbessert; die ganz zu Beginn des Spracherwerbs erlernten Fehler scheinen unausmerzbar und vom Zuhören beim Radebrechen bekommt man Kopfschmerzen bis hin zu Schwindelgefühlen, man fragt sich unweigerlich, wie man Jahrzehnte lang etwas falsch machen kann, was man doch jeden Tag in Funk und Fernsehen richtig vorgemacht bekommt) sind da wohl am Werke: Ihm fehlt einfach das Wort für einen Mann mittleren Alters, der aber dadurch noch so jung wirkt, dass er sich EM-Spiele live reinzieht und dann ständig über Fußball diskutieren will, oft für seine Umwelt auch gezwungenermaßen.

Der Meinung des Türken in der Bude nach ist die türkische Mannschaft eine Ansammlung von Stümpern, und die Vehemenz, mit der er diese Meinung vertritt, ließe fast darauf schließen, dass er in Wirklichkeit Kurde ist. Aber: nein. Er ist Türke. Außerdem sei Fatih Terim ein totaler Spinner, ein Disziplin-Fanatiker, was wohl in der Türkei grundsätzlich zwar ginge, aber selbst für dortige Verhältnisse übertreibe Terim.

Der Torhüter ein absoluter Versager und eigentlich seien sie bislang nur mit überbordendem Glück weitergekommen und, man glaubt es kaum, der Kiosk-Besitzer freue sich darauf, dass die deutsche Mannschaft die Türken endlich mal lang mache. Möglicherweise ist auch diese Aussage nur übersteigerter Verkaufsträchtigkeit geschuldet und allen Türken, die nach mir diesen Kiosk betreten, erzählt er das genaue Gegenteil, Hauptsache sie kommen irgendwann wieder und erwerben Spirituosen, Kaugummis oder Zigaretten zu, wie gesagt, überteuerten Preisen bei ihm.

Später betreten tatsächlich ein paar „Jungens“ den Raum (ein begehbarer Kiosk), die ziemlich türkisch wirken, und der sicherlich gewiefte Taktiker, offensichtlich dennoch grundehrliche Kioskbesitzer bleibt bei seiner Meinung, dass die Türken keine Chance haben und er sich sogar darüber freuen wird, wenn Deutschland ins Finale einzieht. Dies stößt bei den justament Dazugestoßenen auf wenig Gegenliebe, angesichts des fortgeschrittenen Alters des Besitzers folgen aber keine Widerworte, nur leicht unwilliges Grummeln ohne konkrete Aussagekraft wird protokolliert.

Peinlich, sagt der Besitzer, seien diese Autokorsos, er arbeite zwar in Mitte, lebe aber in Meiderich und da sei gestern die ganze Nacht geautokorsot worden, was er überhaupt nicht abkönne. Man könne sich ja gerne zwei Stunden lang freuen, aber die ganze Nacht müsse das Gehupe nun auch nicht sein; er als rechtschaffender assimilierter Deutscher wolle schließlich seine Ruhe haben, irgendwann, EM hin oder her, wenn er am nächsten Tag arbeiten müsse.

Allen hier aufgewachsenen türkischstämmigen Deutschen empfiehlt er zudem, für die deutsche Nationalmannschaft aufzulaufen, nicht nur sei dieser Terim eben ein verrückter Disziplinfanatiker, die Türken hätten auch dennoch keine Disziplin und keine Kreativität auf dem Platz. 2002 habe er sich noch ordentlich gefreut, 1996 erst recht, damals allerdings nur über die Qualifikation, über die nämliche Leistung dann weniger, doch inzwischen sei klar: Die Türken seien nur mit Glück so weit gekommen. Und deutsche Disziplin schlägt Glück, sagt er.

„Junge, glaubst Du nicht? Wirst du sehen.“

17 Kommentare

  1. Ja, das ist eine schöne Reportage über das deutsch-türkische Dilemma. Hier von der Goethestraße aus München wird am Mittwoch auch Ausnahmezustand zu berichten sein. Die Ausgangsposition ist so ungleich, dass Allah vielleicht ein Wunder tut – aber wir glauben ja nicht an Allah. Und Christus hält sich beim Fußball zurück

  2. Türken und Autokorsos – das scheint ein bisschen zu sein wie Deutsche und die Blöd-Zeitung: Keiner will was damit zutun haben, am Ende ist doch jeder mit dabei. Der türkische Taxifahrer, der mich letzte Woche nach Hause gebracht hat, gab sich auch als überzeugter Korso-Gegner aus. Verblüffend.

  3. Patrick Patrick

    Kenn ich auch bei jungen Türken. Einer sagte mir, er hätte es satt, immer für die Türken zu sein (vor allem seinem Vater zuliebe) und erst nach deren Ausscheiden umzusteigen. Daher sei er schon seit einigen Jahren immer gleich für die Deutschen.

    Gespräch fand in Hamburg-Ottensen statt und ich glaube überall dort, wo Immigranten nicht isoliert leben, sondern sich schon seit Jahrzehnten über die Deutschen freuen, die in ihren Läden kaufen.

    Viel schlimmer: Gestern beim schauen sitzte ich neben einem Dänen in Oranje mit Van the Man-Jersey. Und der konnte mir auch nicht erklären, warum er schon seit Jahren Fan der Elftaal ist.

  4. Gilad Gilad

    Ja, ja so wünscht man sich hierzulande den guten Ausländer: dankbar, assimiliert und deutsch.

  5. Patrick Patrick

    So soll das nicht verstanden werden, jedenfalls nicht von mir.

    1. Ein Ausländer ist jemand mit „Migrationshintergrund“ für mich nur dann, wenn er/sie sich selbst so bezeichnet. Unter der Bezeichnung „Türke“ verstehe ich eine Person, die sich mit der türkischen Kultur identifiziert. Der kann von mir aus Yilmaz heissen oder Dieter. Wenn die nett sind, trinke ich mit beiden ein/e/n Cola / Ayran / Bier

    2. Ich wünsche mir die In- und Ausländer frei in ihren Entscheidungen. Ein CSU-Wähler, der die Partei nur wählt weil das schon immer so war oder ein Türkei-Fan, der nur mit der Halbmond-Flagge rumrennt, weil die Familie das von ihm erwartet ist eben das Gegenteil.

    Zum Ausdruck bringen wollte ich, dass aus dem Ausland stammende Deutsche freier oder weniger frei in ihren Entscheidungen sind. In Städten wie Hamburg gut zu beobachten. Altona: Weniger Druck durch kulturelles Erbe, Mümmelmannsberg: Ziemlicher Druck.

    Selbstverständlcih ist das nur eine Einschätzung, keine Ahnung ob dies empirisch haltbar ist.

  6. Gilad Gilad

    Das war nur eine Kurzformel des agent provocateur, Patrick. Habe dich nicht persönlich angreifen wollen. Und spannend ist doch eher der Identitätstrouble in diesem Zusammenhang. Die Entscheidung sich nicht zu entscheiden bzw. sich nicht entschieden zu wollen, was sich in dem Flaggenwirrwarr und der Bezugnahme auf verschiedene Nationen zeigt: Der Portugiesische Lastwagenfahrer mit holländisch-türkischem Migrationshintergrund, der Kroatien unterstützt zum Beispiel.

  7. Gilad Gilad

    Ist das die mögliche Alliteration der Woche by the way?

    Blick (Schweiz): „Hiddink nimmt Holland hops.“

  8. Ja, kann sein. Hiddink ist ein alter Fuchs, aber er scheitert leider immer im Halbfinale. Wir müssen also auf Spanien hoffen, weil Italien raus muss – unbedingt…

  9. mars mars

    bei uns in berlin heißen die dinger ja späti (kurzform von spätkauf, ist klar, ne?) weil sie eben bis tief in die acht aufhaben. und mein türkischer späti besitzer nennt mich immer nachbar. genaugenommen: NACHBAR! – gerufen und mit verve also. was ja eigentlich ganz schön ist. aber etwas entwertet wird dadurch, dass er jeden, der da so reinkommt, so nennt.

  10. Toll, diese Budentürken!

    Mein ehemaliger Budentürke in Wannheimerort war auch sehr sympathisch. Und immer da, ob morgens um 6 oder nachts um 1. Für seine rund-um-die-Uhr-Freundlichkeit habe ich ihm einen seiner Mercedes-Ledersitze finanziert.

    Zu wem der Mittwoch hält weiß ich allerdings nicht. Mittlerweile wohne ich in der Nähe einer Tankstelle die um 21.30 Uhr schließt und einer Bude deren Inhaber alle 2 Monate wechselt, und in der letztlich jemand stand der ein Fragezeichen über dem Kopf hatte, als ich „Weizen“ wollte. Er dachte sicher ich wolle Brot backen.

  11. sternburg sternburg

    @patrick: Aber auf die Reihenfolge achten! Erst Bier, dann am nächsten Morgen Ayran, später meinethalben Cola (je nach Terminplan).
    Und auf sinnlose Formulierungen wie „ein Bier“ verzichten. Niemand trinkt mit jemanden „ein Bier“.

    Mal was anderes: „Wie heißt das Hotel in den die deutsche Nationalelf für die Dauer des Turniers untergebracht ist? (83)“ (frag Trainer Baade am meisten).
    Wassn das: Massen von Menschen, die sowohl für die sinnvolle Benutzung von G**gle, als auch für ein Mindestmaß an Grammatik zu blöd sind?

  12. Die Türken sorgen für eine Dürüm-Rundumversorgung. Sie sind OK und bauen schon vor für Mittwoch.

  13. Sternburg, ja, seltsames Phänomen, ich tippe darauf, dass das irgendwo im Fernsehen oder in einer Tageszeitung gerade eine Quizfrage ist. Wahrscheinlich Deppenfernsehen, sonst wären nicht die etlichen Akkusative dabei, die eigentlich Dative sein sollen. Ein paar Dativ-Googler gibt’s nämlich auch, nur nicht so viele.

  14. Paula (Konstanz) Paula (Konstanz)

    Im schönen Baden-Württemberg gibt es zwar rechtschaffene rüstige Renter, die nie über rote Ampeln gehen, und auch Kioske (Bude versteht hier keiner), aber die halten sich brav an die Öffnungszeiten des Einzelhandels und werden auch eher von Schwaben betrieben. Dönerläden werden meist von Italienern betrieben. Es gibt hier auch Türken, die haben Supermärkte mit billigem Gemüse und guten Oliven, aber auch nur bis 20Uhr max. geöffnet.
    Und wenn man nach 22Uhr (Supermarktschließzeit) noch ein Bier/Milch/Süßigkeiten haben will, dann is halt einfach nicht.
    Die nächste 24h Tanke ist in Singen, aber wer die betreibt hatte ich noch nicht die Muse zu erkunden.
    Ich will eine Bude nebenan haben!! Mit überteuerten Preisen!!

  15. Herr Wieland, mir fällt gerade erst auf, dass Du Deinen eigenen Stadtteil, ehemaligen, falsch geschrieben hast. O mores.

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