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Blonder Pop, gerne ein bisschen verrückt

Zur Einleitung sei erinnert, dass in der spanischsprachigen Fußballwelt eine noch größere Variabilität bei den vergebenen Spitznamen von Aktiven des Sports — Trainer oder Spieler — herrscht als hierzulande. Alle, welche nicht zufällig „el pibe de oro“ genannt werden, das ist allerdings nur einer, tauft man zwischen Feuerland und kurz vorm Baskenland nämlich „el loco“, was so viel bedeutet wie „der Verrückte“. Die Verrücktheit der so Bezeichneten besteht dann oftmals darin, dass sie so etwas Verrücktes tun wie sich für ihre Arbeit als Trainer oder Spieler über 90 Minuten Training am Tag hinaus begeistern zu können. Dass sie mit dem Bus zum Training fahren oder mehr als zwei Bücher gelesen haben. Crazy! El pibe de oro (der eine) oder el loco (alle anderen).

In Deutschland ist man ähnlich kreativ, wenn auch noch „einen Tick“ (Völler), „ein Stück weit“ (Niersbach) mehr als in den spanischsprachigen Ländern. Hier nennt man Spieler im typisch teutonischen Wunsch nach einem Leitwolf gerne einen „Capitano“. Heute Michael Ballack, gestern bekanntlich Lothar Matthäus, morgen sicher jemanden wie Mesut Özil, der schließlich schon in Spanien spielt, was aus typisch teutonischer Sicht irgendwie das Gleiche ist wie Italien. Und dass man sich für Özil mal einen türkisch geprägten Beinamen einfallen ließe, darf man überall erwarten, nicht aber in Fußballdeutschland.

Kommen wir zum zweiten denkbaren Beinamen, der in Fußballdeutschland zu vergeben ist. Nicht jeder kann schließlich ein Capitano sein, per DFB-Regeln in aller Regel ohnehin nur einer pro Team. Spanien el loco, Deutschland Capitano und: der Blonde Engel. Das, so weiß nicht allein der Kenner, ist Bernd Schuster.

Nun zu etwas nicht völlig Anderem. Der Tagesspiegel wählt für sich gerade eine Elf der 50 Saisons Bundesliga. Mit dabei sind so Spieler wie der Capitano, also beide Capitanos, Ballack/Matthäus, aber auch der Blonde Engel. Wie kommt das? Hat Bernd Schuster nicht nur anderthalb Saisons in der Bundesliga gespielt und entfleuchte dann auf ewig ins Land der el locos? Barça, Real, Atletico? Nein, hat er nicht, er war ja auch noch einige Jährchen als mittleres Missverständnis bei Bayer Leverkusen aktiv. Der Blonde Engel aus Augsburg. Und zum besten Spielgestalter der Bundesliga wählte man Günter Netzer, der „Erste Popstar des Fußballs“.

Eine kleine Laudatio hat man ihm dann auch gegönnt. Was man aber tatsächlich über Günter Netzer lernen könnte, wenn man denn wollte, ist nicht das, was der Tagesspiegel über ihn an Anekdötchen kredenzt. Gut, es mag tatsächlich noch genau eine Person rund um Berlin geben, die noch nichts von den Fakten „Lovers Lane“, Gladbacher Stadionzeitung und Händler von Fußball-TV-Rechten in Günter Netzers Vita gehört hat. Für genau diese eine Person (evtl. „el loco“ genannt) lohnte es sich natürlich, das noch einmal aufzuschreiben. Dass Netzer sich damals im Pokalfinale selbst einwechselte, wird aber selbst diese eine fußballfernere Person in Berlin schon einmal gehört … zzz.

Dabei wäre doch eine Abweichung vom ewig selben Wiedergekäuten gerade aus Anlass eines solch besonderen Jubiläums und jenes Specials des Tagesspiegels willkommen gewesen. Wir hätten erfahren können, dass Günter Netzer nicht nur eine Diskothek betrieb, sondern auch ein Restaurant namens „La Lacque“. Dass er sich dazu auch als Taxi-Unternehmer (!) in Mönchengladbach versuchte. Dass alle drei Unternehmungen finanziell scheiterten und er sie wieder aufgeben musste. Einzig die Sache mit der Stadionzeitung florierte ein wenig.

Das wäre mal zumindest für Spätgeborene Neues gewesen, und wir hätten sogar erfahren können, dass man Günter Netzer in seiner Zeit bei Real Madrid einen Spitznamen verpasste, den nicht nur hiesige Blogger für eindeutig an Bernd Schuster gekoppelt hielten. In Madrid nannte man Netzer den „Blonden Engel“, wenn auch mit dem Zusatz „mit den großen Füßen“, wohl zur Unterscheidung von eventuell später kommenden „Blonden Engeln“, wie es sicher auch diverse el locos mit diversen Zusatzeigenschaften gibt.

Oder dass Netzer eine Meinung zum Thema „Stallgeruch“ in der Bundesliga hatte, welche im Jahre 1978, man höre und staune, als äußerst progressiv galt:

„‚Wie in England, in Italien oder Spanien sollten auch in Deutschland nur ehemalige Fußballer in Fußballvereinen Manager werden‘, erklärt Fachmann Netzer nun.“

Der Kaufmann Dr. Krohn wurde beim Hamburger SV wegen Fußballahnungslosigkeit aus dem Amt entfernt, und durch einen Ex-Fußballer ersetzt; eine Wendung der Fahrtrichtung in der Bundesliga, an der bis heute so mancher Verein schwer zu schaffen hat.

Wir hätten auch, das alles im Text vom Spiegel von 1978, „Pop und Pep“, lange bevor es Letzteren übrigens als Person im deutschen Fußball gab, erfahren, dass Günter Netzer neben der viel zitierten Lovers Lane auch noch eine Versicherungs-Agentur und einen Sportartikel-Großhandel betrieb sowie seinen Namen auf Fußballprodukten an Puma vermarktete, neben den schon erwähnten Ästen Taxi-Unternehmen, Restaurant, Discothek, Stadionzeitschriftsbetreiber und nicht zuletzt späterem Rechtehändler. Dass Netzer, sicher wohlweislich heute gerne unter Verschluss gehalten, Sohn eines Samenhändlers ist, ist nun auch nicht gänzlich uninteressant.

Es muss allerdings einen Grund geben, warum man sich immer auf Lovers Lane, Selbsteinwechslung und TV-Experten Netzer beschränkt, wenn man über ihn spricht. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Kreativität im Fußball (Capitano, Blonder Engel, el loco) nicht nur bei den Aktiven in weniger als handelsüblichen Dosen existiert, sondern auch bei jenen, die drüber schreiben. Denn den Artikel vom Spiegel zu finden, dafür hätte man einfach nur googlen müssen (hier war er auf Platz 2) und schon hätte man seine Leser nicht derart langweilen müssen.

La Lacque, Taxi fahr’n mit Jünter und Großhändler von Fußbällen. Mehrfach gescheiterter Unternehmer.

Natürlich liegt auch das kaum über Anekdotenniveau, aber eben den Horizont erweiternd, wie die 50 Jahre Bundesliga tatsächlich von den Handelnden gestaltet wurden, und nicht allein dem ewig gleichen Narrativ folgend. So könnte es sein, dass dieses Narrativ allein aus Bequemlichkeit tradiert wird, dass es sich zu einer Art Mem in Bezug auf manche Personen entwickelt hat, welches durch ständige Wiederholung zur einzig wahren Interpretation dieser Handelnden mutierte, oder dass menschliche Gehirne per se einfach so funktionieren, dass man Etiketten verteilt, die dann auf ewig haften bleiben und nicht mehr hinterfragt werden (müssen), wobei die letzten beiden Erklärungsansätze mehr oder weniger inhaltlich das Selbe bedeuten.

Selbst die im Fußball in so geringer Zahl vorhandenen Spitznamen leben länger als jene, welche sie tragen, sie überdauern ihre Besitzer, nach etwa einem Jahrzehnt ist ein Spitzname wieder frei und kann an jemand anderen vergeben werden. Die so Titulierten müssen oder je nach gusto dürfen dann mit all den zugehörigen Eigenschaften kokettieren, ohne dass sie sie je in realiter besessen haben müssen.

Aus der selben Kategorie stammt wohl, dass Pop und Pep zwei Vokabeln sind, die uns offensichtlich schon seit 1978 immer wieder begegnen. Gotik nicht, Gothic schon gar nicht, Romantik nicht, Impressionismus nicht, es muss immer Pop sein.

Am liebsten Blonder Pop, gerne ein bisschen verrückt.

11 Kommentare

  1. Dr. Socrates Dr. Socrates

    „….geringe Zahl vorhandener Spitznamen“?
    Fangen wir mal mit Heinz-Werner „Rakete“ Eggeling an. Und fügen Uwe „Funkturm“ Kliemann hinzu.

  2. Kennst du die Netzer Biographie von Helmut Böttiger? Bescheuerter Titel („Manager und Rebell“), aber ansonsten sehr, sehr lesenswert. Böttiger schreibt über Fußball, als wäre es die italienische Oper, hat mal irgendwer gesagt.

  3. Schöner Text Trainer.

    An Spitznamen hätte ich noch beizutragen

    Sprotte – Hans-Ulrich Grapenthin , langjähriger Torwart beim FC Carl Zeiss Jena

    Dixie – Hans-Jürgen Dörner, Libero der Extraklasse bei Dynamo Dresden

    Zwecke – Dieter Kühn, Torjäger beim 1. FC Lokomotive Leipzig

    Schere – Dieter Scherbarth, Mitglied der legendären Meistermannschaft von Chemie Leipzig im Jahr 1964

    Schwarzer Peter – Peter Ducke, Vollblustürmer beim FC Carl Zeiss Jena, seine Spielweise war ein Naturereignis

  4. Ja, ist ja richtig, sportinsider und Dr. Socrates. Aber: die Vergabe von Spitznamen, die über eine Abwandlung des Nachnamens hinausgehen, hat seit irgendwo bei 20-25 Jahren stark nachgelassen. Den „Hammer“ und die „Axt“ kennt man noch, danach hört es auch schon auf, bzw. geht nur mit Schweini, Poldi und Grabi, ach nee, der war früher, jedenfalls so ähnlich weiter.

    Nein, Chris, kenne ich nicht. Kommt mal auf die Liste.

  5. Gilt der Titan?

    Gilt Eurofigther – quasi ein Spitzname für eine komplette Mannschaft? In der damaligen Schalke Mannschaft gab es ja für Wilmots nochmals eine extra Hervorhebung in Richtung Kampfschwein.

    Auch Willi Landgraf fällt mir aus dem Zeitfenster 20-25 Jahre noch spontan ein. Willi das Kampfschwein. Praktisch das Pendant zu Wilmots.

    Einen hab ich noch – Mozart – Thomas Broich.

  6. Okay, es gibt dann doch noch ein paar mehr Bezeichnungen, aber das war nicht die Hauptzielrichtung hier, sondern dass zwar auch die Spitznamen, vor allem aber die Narrative einmal festgelegt und dann stets wiedergekäut werden, ohne dass man mal die anderen Seiten erfährt. Das Graue im Schwarzweißen eben, oder seien es auch nur weitere Details (vielleicht hilft eine Biografie da tatsächlich mehr als drei Absätze in einer Zeitung).

    Sehr schön ist auch die Laudatio von Niersbach auf Beckenbauer im selben Special, wo er stets von der besonderen Gelassenheit Beckenbauers fabuliert, um dann hinzuzufügen, dass dieser schon ein Choleriker war, „früher“. Gut, das ist ja allgemein bekannt, und sicher verändert man sich mit dem Altern tatsächlich in diese Richtung, aber das mit dem Franz und dem Elder Statesman stimmt doch auch nur vermeintlich, weil es so konstruiert und kolportiert wird. Das Selbe mit allen anderen Stories, you name it, Sammer der xy, Heynckes, Magath etc. Ich glaube nicht, dass die transportierten Bilder allzu viel mit den realen Typen zu tun haben.

    Und hier war es auch einfach der Aspekt, dass der umtriebige Netzer als Fußball-Weltstar in den 1970ern trotzdem noch zig andere Aktivitäten starten musste, um mehr als nur ein Häuschen im Trockenen zu haben. Welcher ansonsten gerne fehlt.

  7. Im Vorfeld der WM 2006 strahlte glaube Arte eine ganze Reihe von Porträts aus. Darunter auch über Netzer. Da saß er am kleinen Tisch, die Stadionzeitung vor sich. Klemmte sich den Telefonhörer ans Ohr und rief potentielle Anzeigenkunden an.Sehr schönes Zeitdokument der Netzerschen Akquise.

    Die transportierten Bilder können mit den jeweiligen Personen auch nie 1:1 übereinstimmen. Hatte letztens ein Buch über Sammmer in der Buchhandlung in den Händen mit dem Titel: ,,Ich liebe die schwierigen Dinge.“. Schlage ein Kapitel ziemlich weit hinten auf. Sein Büro bei Bayern München wird geschildert wie das eines Architekten. Seine Arbeitsweise und die charakterlichen Merkmale stark gelobt. So gar keine Schwächen oder Abweichungen von der Tugendskala. Das war selbst mir unheimlich, obwohl Sammer einen Bonus in Sachen Sympathie bei mir hat. Dann schau ich, wer hat denn das Kapitel über Sammer geschrieben, sieh da Dr. Karsten Schumann. Der wissenschaftliche Mitarbeiter von Sammer.

    Dachte mir dann beim Herausgehen aus der Buchhandlung: Wie wäre das Kapitel ausgefallen wenn Trainer Baade es geschrieben hätte?

  8. diddi der däne diddi der däne

    Dass Netzer eine Agentur für die Alten Leipziger Versicherungen betrieb, wissen eifrige Zuschauer der Kalkofschen Mattscheibe aber auch schon länger – wie man von Oliver Kalkofe sowieso noch viel über die deutsche Fußballgeschichte lernen kann (z. B. wie grellbunt Trikots sein konnten).

  9. Mahqz Mahqz

    Der weiße Brasilianer – Ansgar Brinkmann und Bernd Schneider.

    Ähmja…

  10. Dominik Dominik

    @Mahqz: für Schneider war doch aber „Schnix“ geläufiger.
    Günter Netzer hat auch mal zusammen mit Fortuna Stürmer Peter Meyer ind Düsseldorf die Stadionzeitung „Flinger Ruf“ rausgebracht, was die Fortuna aber nach zwei Ausgaben untersagt hat. Eventuell auch ein Grund für den späteren Niedergang der Düsseldorfer, das fehlen einer Stadionzeitung aus dem Netzer-Imperium.

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